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Göttin Holda im Eresberg

Text: Eduard Emmerich


In einer fernen Zeit, als noch keine Menschen den Eresberg bevölkerten, lebten in den Wäldern von Obermarsberg viele Tiere in Harmonie und Freundschaft miteinander. Sie ernährten sich von den Blättern der Bäume, den Gräsern auf den Lichtungen und den schmackhaften Beeren der zahlreichen Sträucher. Wenn sie durstig wurden, kamen sie zu den Drakenhöhlen, um sich am klaren Wasser einer glitzernden Quelle, die aus einer der zahlreichen Höhlen sprudelte, zu erfrischen.

Dann kam eine sehr schwere Zeit. Es gab keinen Regen mehr und die Sonne trocknete den Wald aus. Die Pflanzen verdorrten und es nahte eine große Hungersnot. Die Tiere gerieten in Streit um die letzten essbaren Pflanzen und Beeren. Die Füchse jagten die Hasen, die Bären die Rehe und sogar die Vögel stritten sich um die letzten Beeren. Das Leben im Wald glich einem einzigen Kampf. Die kleine Spitzmaus Tesla aber konnte es nicht ertragen, dass die Harmonie des Waldes zerstört war und nur noch Feindschaft gegierte. Sie kletterte auf einen Baumstamm und rief so laut sie konnte: „Liebe Freunde, wir dürfen uns doch nicht bekriegen. Nur gemeinsam können wir der drohenden Hungersnot entkommen“. Erst waren es nur wenige Tiere, die Tesla zuhörten, doch nach und nach wurde es ruhiger im Wald. Die Tiere waren überrascht, dass eine kleine Spitzmaus soviel Mut und Weisheit besaß und beschlossen, am nächsten Tag einen Rat der Tiere abzuhalten. Als der Rat der Tiere zusammentrat, war es wieder die Spitzmaus Tesla, die sich zu Wort meldete. Sie erzählte, dass schon über Generationen hinweg in ihrer Familie erzählt wird, dass die Drakenhöhle mit der glitzernden Quelle der Eingang zu einer geheimnisvollen Welt sein soll, in der die Göttin Holda lebe, die für die Fruchtbarkeit der Erde zuständig ist. Sie lässt die Sonne scheinen und macht den Regen und den Schnee. Der Rat der Tiere beschloss, diese geheimnisvolle Welt zu suchen und bei der Göttin Holda vorzusprechen. Tesla war die mutigste und ging den Tieren voran in die Höhle. Durch dunkle und feuchte Gänge kamen sie immer tiefer in den Eresberg, bis es plötzlich nicht mehr weiter ging. Sie schienen an das Ende der Höhle gelangt zu sein. Sofort begannen sie wieder zu streiten, wie sie sich nur auf solch eine Geschichte einlassen konnte. Aber wieder war es Tesla, die sich Gehör verschaffte. „Gebt mir ein wenig Zeit“, sagte sie, „Ich bin die Kleinste unter euch und werde mich auf die Suche nach einem Ausweg machen.“ Und so machte Tesla sich auf die Suche nach einem Ausweg. Es dauerte nicht lange, da sah sie ein kleines Loch im Felsen, durch das ein winziger Lichtstrahl in die Höhle fiel. Tesla zwängte sich durch die kleine Öffnung und sah sich in einem wunderschönen Garten. Es gab Sonne, Regen und Schnee gleichzeitig. Überall blühte es und die Bienen summten. Eine solche Welt hatte sie noch nie gesehen. Inmitten dieser merkwürdigen Welt stand plötzlich eine alte Frau. Gütig und weise blickte sie drein. „Sind Sie die Göttin Holda, von der in meiner Familie seit Jahrhunderten erzählt wird?“ fragte Tesla leise und vorsichtig. „Das bin ich seit ewigen Zeiten“, sagte die Frau. „Besuch bekomme ich allerdings nur selten und bin sehr erfreut, dass du so mutig bist und dich hier her traust. Du darfst auch einfach Frau Holda zu mir sagen.“ Tesla erzählte Frau Holda von ihren Freunden, die noch in der Drakenhöhle sind, und plötzlich tat sich ein Tor auf, durch dass auch die anderen Tiere den Garten von Frau Holda betreten konnten. Frau Holda bat die scheuen Tiere, näher zu kommen, und weil sie ihnen zu sanft und gutmütig zulächelte, verloren die Tiere bald ihre Angst. Sie erzählten von der Trockenheit und der nahenden Hungersnot und dass sie sich deshalb auf den beschwerlichen Weg in diese fremde Welt gemacht haben. Sie baten Frau Holda, es doch wieder regnen zu lassen, damit der Wald zu neuem Leben erweckt würde und die Tiere weiterhin unbeschwert leben können.

Frau Holda hörte geduldig zu und erklärte mit sanfter Stimme, dass sie schon Regen machen könne, die Tiere aber etwas dazu beitragen müssten. Jedes Tier des Waldes solle ihr eine Gabe bringen.

Das wollten die Tiere wohl tun und kehrten zurück in ihren Wald. Bald sah man die Tiere fleißig sammeln. Die Eichhörnchen sammelten Nüsse, die Vögel bunte Federn, die Rehe sammelten die schönsten Blumen und die Füchse wohlriechende Kräuter, die Bären den köstlichsten Honig und die Fledermäuse die schönsten Edelsteine aus den umliegenden Höhlen. Jedes Tier des Waldes steuerte etwas bei und bald war die beschwerliche Arbeit beendet. Frau Holda betrachtete mit großer Freude den Fleiß und die Zusammenarbeit der Tiere. Als die Tiere die Höhle erreichten und ihre Gaben dort ablegten, zogen dunkle Wolken auf und es begann zu regnen. Der Fleiß der Tiere hatte die Güte der Frau Holda geweckt und die Dürre gebrochen. Der Wald erstrahlte in neuem Glanz. Die Tiere jubelten und dankten der Göttin Holda für ihre Güte. Sie versprachen, von nun an immer in Harmonie miteinander zu leben. Und so lebte Tesla glücklich und zufrieden im Wald bei den Drakenhöhlen, wissend, dass auch die Kleinsten Großes bewirken können, wenn sie nur Mut haben. Die Quelle aus den Drakenhöhlen fließt bis heute und weißt auf die Welt der Göttin Holda hin.